Die Kunst, eine Höhle zu bauen

„Alle Empfindungen nehmen an der Ausdehnung teil; alle strecken mehr oder weniger ihre Wurzeln in den Raum.“[1]

Wenn Kinder ein Gebäude malen, zeichnen sie fast ausschließlich ein Haus, keine Kirchen oder Shoppingmalls, oft freistehend, mit der eigenen Familie als einzigen Bewohnern. Dabei ist es egal, ob man selbst in einem Plattenbau oder in einem spitzgiebeligen Einfamilienhaus wohnt: Das Bedürfnis nach der eigenen Behausung, dem ungeteilten Dach über dem Kopf ist anthropologisch fast ebenso konstant wie nach regelmäßigem Essen.

In klein sind es dann Räume in Räumen, Höhlen unter Esstischen, Deckengebilde in Zimmerecken, ein Papphaus aus Papiermüll, die nicht nur eine kindliche Sehnsucht stillen: Innen und Außen zugleich zu sein, beschützt und unsichtbar alles sehen, alles verfolgen zu können, was draußen vor sich geht.

Und: Die elterliche Wohnung darf jeder betreten. Die Höhlen nicht. Im Kinderzimmer ist es nur in Bilderbüchern schön. Im Kinderzimmer hat man auch Angst, die bunten Farben schreien dich an, du bist alleine und die Gespenster lauern nur ein Stückweit unter der Bettkante. Gespenster als unser Grauen vor der Vergangenheit, vor allem der Vergangenheit der Räume, in denen wir leben.

Kinder sind Besitzer wie Besetzer eines neuen, selbstgebauten Raumes, bestimmen selbstständig, wer und was wie hineingelassen wird, was momentanen Wert besitzt und was nicht. An diese Höhlen kann man Glauben ansetzen. Den Glauben daran, geschützt zu sein, unsichtbar, der ständigen Betreuung entzogen.

Anna Weber malt diese ungemischten Reiche als Simulakren des Schutzes. Bei so vielen kombinierbaren Elementen auf der Welt ist es erschreckend, wie selten die richtigen Kombinationen auftreten. Weber stellt sich die Frage, was man kombinieren muss, um so etwas wie ‚Höhle’ zu denken. Kinder kennen diese Frage und bauen Hütten und Höhlen aus allem, was sie finden und was sich ihrer Ansicht nach als ‚Dach’ oder ‚Wand’, ‚Eingang’ oder ‚Boden’ eignet. Anna Weber baut Höhlen aus Farbe. Und reißt sie mit Farben wieder ein. Farben werden bei Weber zu Spielfiguren, deren Anordnung und Züge letztlich die Form bestimmen, die sie eigentlich nur ausfüllen sollten. Bei „Stuhlbude“ beispielsweise hat man nicht das Gefühl, in den Formen etwas ausgemaltes, sondern etwas bezwungenes zu sehen.

Ihre Höhlen sind oft zur bloßen Form gereinigt, vom Inhalt befreit. Die Farben übernehmen somit auch die Konstruktion des Bildraumes, wie es schon van Gogh, Cézanne und vor allem Matisse gemacht haben. Und so sieht man in „Memphisspielplatz” im Verlauf von Grün zu Weiß eine Perspektive, ist die blaue Decke in „Teppichbude” eine Art Himmel.

Die Winkel sind spitz und unruhig und tragen als Zeiger Wesentliches zur kompositorischen Grundordnung der Gemälde bei. Kandinsky nannte spitze Winkel „warm“ und schrieb ihnen, je weiter sie wurden, eine „Lust zur Eroberung der Fläche“ zu.[2] Jene Lust ist in dem riesigen Segel in „Zimmerzelt” zu sehen, in den Dielen der „Höhle“, sowie im Quadrat in „Flowerpower”: stark herausgearbeitete, konturierte Winkel, die zu Ecken, zu unverrückbaren Landmarken in der Erstürmung der Fläche werden.

Sowieso: Farbe

„Nicht die Farben unterordnen, sondern alles der Farbe zu Füßen legen”, befahl einst Wassily Kandinsky.[3] Auch in Webers Gemälden geht es nicht nur um Höhlen, sondern auch um spitze und runde, blaue und grüne, rote und gelbe Formen. Anna Weber kümmert sich nicht mehr um das naturalistische Abbild, das lediglich formalistische Fragen nach dem ‚Wie’ der Darstellung zulässt.

In den Höhlen befindet man sich am Rande seiner Sichtbarkeit: Man wird der Sichtbarkeit von außen entzogen und kann selbst kaum Äußeres wahrnehmen. Weber begegnet dieser Ausgangslage mit einer Aufladung der fehlenden Sichtbarkeit: Ihre Räume sind nicht jene trägen, zentralperspektivischen Kästen, ihre Räume kann man teilen, man kann willkürliche Figuren herausschneiden und dennoch halten ihre Gerüste: In der Farbe.

In der Farbe zeigt sich die Solidarität der Objekte, ihre Ikonografierbarkeit, die gegenständliche Assoziationen zulassen, manchmal gar herausfordern: Farbpsychologisch scheint zum Beispiel der rote Teppich ihrer „Teppichbude“ Kandinsky gelesen zu haben, der schrieb:

„Rot unterscheidet sich von Gelb und Blau durch seine Eigenschaft, fest auf der Fläche zu liegen […]. Die Diagonale zeigt als Unterschied von den freien Geraden festes Liegen auf der Fläche, als Unterschied von der Horizontalen und Vertikalen zeigt sie größere innere Spannung.“[4]

Die Aufsicht auf den Teppich, die noch steilere auf die Balken und die abschließende auf das Dach erfassen das Zimmer wie aus einem inmitten des Raumes schwebenden Blick. Durch die steile Flucht des Teppichs wirkt der Raum viel tiefer, als das Gerüst es erlauben würde und durch die fliehenden Formen überfüllt. Einzig die Kontur des Dach/Himmels ist unverletzt und bietet dem Blick eine Pause und die Ahnung eines Ausblicks. Alle im Bild gezeigten Gegenstände wirken entmaterialisiert.

Das Schwebende der Raumerfahrung bestimmt auch die Erscheinungsweise der Farben: Sie sind von einer verwandten hohen Helligkeit, was sich vor allem bei „Höhle“ und „Zimmerzelt“ zeigt, und haben eine blendende, leichte, unkörperliche Leuchtkraft. Und wie beim Synästhetiker Kandinsky ist auch in der „Teppichbude“ Gelb eine spitze Farbe.[5]

Eine weitere wichtige Rolle spielt die Kontur in Webers Arbeiten. Nicht selten kontrastieren ihre Farben die Farben der Formen, die sie begrenzen. Und weiter noch: Oft sind alle Anmutungen von Objekthaftigkeit im Raum – das Segel in „Zimmerzelt“, die Deckenbehausung in „Höhle“ – lediglich Linie, nur Kontur. Scheinbar beziehungslose Formen verbindet die Kontur zu Räumen, Fenstern, Türen, wobei die Linie nur so weit gezogen wird, dass sie unser Erkennen herausfordert.

Auch Henri Matisse war immer auf der Suche nach Farben, die sich vertrugen, Bewusstsein und Materie werden bei ihm ebenfalls einander angenähert. Anna Weber sucht das Nichtsichtbare im Sichtbaren und so sind die Höhlen sowohl Subjekt als auch Objekt ihrer eigenen Empfindungen. Ihre Bilder blicken hinter den eisernen Vorhang reflexiven Wissens und entdecken Farben, schreiende, weinende, lachende Farben, denen eine expansive Kraft gegeben ist, die ihre Umgebung belebt. Denn: Ist nicht alles Raum der Farbe? Ist nicht alles Wissen um Raumeinheiten verwandelt worden in die vibrierenden Bewegungen von Farbformen?

Kein Schritt ist sicher oder sinnvoll in diesen Räumen voll sozialem Ornament: Bewegung ist in Webers Bildern eine Vielheit von augenblicklichen Lagen, eine Überlagerung, die sich nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begreifen lässt: Zurück aus der Zukunft scheint der Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch nichts verbürgt zu sein, ihre Buden und Höhlen sind Kindheitserinnerung und Utopie zugleich.

Anja Schürmann

[1] Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 2001, S. 219.

[2] Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926, S. 65.

[3] Wassily Kandinsky, Gesammelte Schriften 1889–1916: Farbensprache, Kompositionslehre und andere unveröffentlichte Texte, München/Berlin/London/New York 2007, S. 251

[4] Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926, S. 59.

[5] „So ist der spitze Winkel innerlich gelb gefärbt.“ Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926, S. 67.

Dr. des. Anja Schürmann

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Kunstgeschichte Heinrich-Heine Universität Düsseldorf

anja.schuermann@uni-duesseldorf.de